SG Berlin 12. Kammer , Urteil vom 28. Mai 2009 , Az: S 12 R 3578/07

Ist eine Entgeltvorausbescheinigung bereits unter Zugrundellegung der bei ihrer Erteilung bekannten Umstände unzutreffend, weil darin die zu erwartenden Einnahmen für zwei Monate (irrtümlich) gar nicht bescheinigt wurden, steht § 70 Abs. 4 S 2 SGB VI einer Aufhebung des Rentenbescheides nicht entgegen, sondern es gelten die allgemeinen Regeln, der §§ 44 ff SGB X

Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid, durch den die Beklagte einen Rentenbescheid aufhob und die Rente der Höhe nach neu festsetzte.
Am 16. Februar 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Altersrente.
Am 1. März 2006 erteilte der Arbeitgeber der Klägerin, das Land B.., vertreten durch die Senatsverwaltung …., eine Entgeltvorausbescheinigung, die für die Zeit vom 1. März bis 31. Mai 2006 ein Entgelt in Höhe von 3.541 € auswies.
Mit Bescheid vom 21. März 2006 bewilligte die Beklagte der Klägerin Altersrente für Frauen ab dem 1. Juni 2006, wobei sie eine monatliche Rente in Höhe von 926,43 € und – abzüglich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung – einen Zahlbetrag in Höhe von monatlichen 838,42 € errechnete. Für vollwertige Beitragszeiten ermittelte die Beklagte 30,8744 Entgeltpunkte (EP) für 495 Monate. Da der Mittelwert der Entgeltpunkte (30,8744 EP: 495 Monate = 0,0624) den Wert von 0,0625 unterschritt, ermittelte die Beklagte zusätzliche Entgeltpunkte, nämlich 4,6618 EP. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf den Rentenbescheid Anlage 3 S. 4 und 5 verwiesen.
Mit Schreiben vom 3. August 2006 teilte der vorgenannte Arbeitgeber der Klägerin der Beklagten mit, die Entgeltvorausbescheinigung vom 1. März 2006 sei fehlerhaft. Irrtümlich sei nur das Entgelt für den Monat Mai 2006 bescheinigt worden. Das voraussichtliche beitragspflichtige Entgelt betrage für den Zeitraum vom 1. März 2006 bis zum 31. Mai 2006 vielmehr 8.785,00 €.
Dies nahm die Beklagte zum Anlass, die Höhe der Rente der Klägerin zu überprüfen. Nach Anhörung der Klägerin stellte sie die Altersrente für Frauen ab dem 1. November 2006 neu fest und hob den Bescheid vom 21. März 2006 für die Zukunft auf. Die Beklagte errechnete eine monatliche Rente in Höhe von 815,26 € und – abzüglich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung – einen Zahlbetrag in Höhe von monatlich 737,81 €. Für vollwertige Beitragszeiten ermittelte die Beklagte 31,0534 EP für 495 Monate. Der Mittelwert (31,0534 EP: 495 Monate = 0,0627) unterschritt nicht den Wert von 0,0625. Die Beklagte ermittelte keine zusätzlichen Entgeltpunkte. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf den Rentenbescheid Anlage 3 S. 4 verwiesen.
Mit Schreiben ihrer Bevollmächtigten erhob die Klägerin am 17. Oktober 2006 Widerspruch, den sie damit begründete, dass sie auf den Bescheid vom 21. März 2006 vertraut habe und sie an der Notwendigkeit einer Neufeststellung der Rente kein Verschulden treffe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 2. April 2007 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.
Mit ihrer am 26. April 2007 beim Sozialgericht eingegangenen Klage vom 25. April 2007 verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.
Die Klägerin trägt vor, sie habe auf den Bescheid vom 21. März 2006 schützenswert vertrauen dürfen. Die sich aus diesem Bescheid ergebende Rentenhöhe stimme mit einer Rentenauskunft überein. Diese Auskunft habe die Klägerin zum Anlass genommen, mit ihrem Arbeitgeber einen Altersteilzeitvertrag abzuschließen.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 21. September 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. April 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtmäßig. Das öffentliche Interesse an der Rücknahme eines rechtswidrigen Bescheids überwiege das Interesse der Klägerin an dessen Bestand. Für die Beurteilung, ob von der Klägerin getroffene Vermögensdispositionen für sie Vertrauensschutz begründen, komme es darauf an, dass die Dispositionen nach dem Erlass des aufgehobenen rechtswidrigen Verwaltungsaktes getroffen wurden. Dafür fehlten Anhaltspunkte. Andere Vertrauensschutztatbestände seien nicht gegeben.
Dem Gericht haben neben den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze und die Akten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg, denn sie ist zwar zulässig aber unbegründet. Denn der angefochtene Bescheid vom 21. September 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. April 2007 ist nicht rechtswidrig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte war berechtigt, den Rentenbescheid vom 21. März 2006 für die Zukunft aufzuheben.
Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bescheids vom 21. März 2006 ist § 45 Abs. 1 u. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Nach § 45 Abs. 1 SGB X darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), soweit er rechtswidrig ist, nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 und 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit oder die Zukunft zurückgenommen werden.
Der Rentenbescheid vom 21. März 2006 ist ein begünstigender Verwaltungsakt. Er ist auch rechtswidrig. Ein Verwaltungsakt ist rechtswidrig, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt wurde oder von einem Sachverhalt ausgegangen wurde, der sich als unrichtig erweist. Letzteres ist hier der Fall. Denn beim Erlass des Rentenbescheids vom 21. März 2006 ging die Beklagte davon aus, dass sie für die Berechnung der persönlichen Entgeltpunkte der Klägerin für den Zeitraum vom 1. März 2006 bis zum 31. Mai 2006 beitragspflichtige Einnahmen der Klägerin in Höhe von 3.541 € zugrunde zu legen hatte. Tatsächlich waren jedoch beitragspflichtige Einnahmen für diesen Zeitraum in Höhe von 8.785 € zugrunde zu legen. Die Beklagte ging aufgrund der irrtümlich unzutreffenden Angaben in der von dem Arbeitgeber der Klägerin ausgestellten Entgeltvorausbescheinigung vom 1. März 2006 von einem unzutreffenden Sachverhalt aus.
Gegen die Berechnung der Entgeltpunkte auf der Grundlage von beitragspflichtigen Einnahmen in Höhe von 8.785 € für den Zeitraum von März bis Mai 206 werden keine Einwendungen erhoben und es sind auch keine Rechtsfehler zu erkennen. Insbesondere hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid zutreffend die Entgeltpunkte der Klägerin nicht gemäß § 262 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) erhöht, weil der Mittelwert der Entgeltpunkte für Kalendermonate mit vollwertigen Beitragszeiten den Wert von 0,0625 nicht unterschritt. Für vollwertige Beitragszeiten ermittelte die Beklagte nämlich 31,0534 EP für 495 Monate, woraus sich ein Mittelwert von 0,0627 ergab (31,0534EP: 495 Monate).
Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes stehen der Aufhebung des Bescheids vom 21. März 2006 nicht entgegen. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf nämlich nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an seiner Rücknahme schutzwürdig ist (§ 45 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Das Vertrauen in der Regel schutzwürdig wenn der Begünstigte erbracht Leistungen verbraucht hat oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X).
Das ist hier letztlich nicht gegeben. Für Umstände, die nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X wegen falscher Angaben o. ä. den Vertrauensschutz von vornherein entfallen lassen, sind keine Anhaltspunkte zu erkennen.
Der Klägerin steht auch kein Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X zu. Darauf, ob der Begünstigte des rechtswidrigen Verwaltungsaktes die durch diesen bewilligten Leistungen verbraucht hat, kann es nur ankommen, soweit der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn der Bescheid vom 21. März 2006 wird ausschließlich für die Zukunft aufgehoben.
Die Klägerin hat auch keine Vermögensdisposition getroffen, die sie nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Von dieser Vorschrift werden, worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat, nur solche Vermögensdispositionen erfasst, die nach dem Erlass des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes getroffen wurden. Dieser Verwaltungsakt ist der Anknüpfungspunkt für Vertrauen.
Solche Dispositionen sind hier nicht gegeben. Nach dem Erlass des Rentenbescheids vom 21. März 2006 hat die Klägerin nämlich keine Vermögensdispositionen getroffen, die sie nicht oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Dies ergibt sich aus ihren Angaben, die sie auf die ausdrückliche Frage der Kammer im Termin zur mündlichen Verhandlung gemacht hat.
Soweit sich die Klägerin darauf beruft, ein die Aufhebung des Bescheides vom 21. März 2006 hindernder Vertrauensschutz ergebe sich daraus, dass sie sich auf eine Renteninformation der Beklagten verlassen und deshalb mit ihrem Arbeitgeber einen Altersteilzeitvertrag geschlossen habe, greift dies nicht durch. Dies ergibt sich aus § 149 Abs. 5 Satz 3 SGB VI. Danach wird über die Anrechnung und Bewertung der im Versicherungsverlauf enthaltenen Daten erst bei Feststellung einer Leistung entschieden. Das bedeutet, dass der Versicherte nicht auf die in einer Renteninformation ausgewiesene Höhe der Rente vertrauen kann.
Die Aufhebung des Bescheides vom 21. März 2006 durch den angefochtenen Bescheid ist auch nicht durch § 70 Abs. 4 Satz 2 SGB VI in der vom 1. Januar 2002 bis zum 31. Dezember 2007 in Kraft befindlichen Fassung (Art. 1 des Gesetzes vom 18. Dezember 1989, BGBl. I S. 2261, 1990 I S. 1337) ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift bleibt die tatsächliche beitragspflichtige Einnahme für die Rente außer Betracht, wenn sie von der vorausbescheinigten abweicht. Dies bezieht sich auf § 70 Abs. 4 Satz 1 SGB VI in der genannten Fassung. Danach sind für den Fall, dass für eine Rente wegen Alters eine beitragspflichtige Einnahme im Voraus bescheinigt worden ist (§ 194 SGB VI) für diese Rente Entgeltpunkte daraus wie aus der Beitragsbemessung zu ermitteln. Eine solche Vorausbescheinigung im Sinne von § 194 Abs. 1 Satz 1 SGB VI in der vom 1. August 2004 bis zum 31. Dezember 2007 in Kraft befindlichen Fassung liegt hier vor. Nach dieser Vorschrift haben Arbeitgeber auf Verlangen von Versicherten das voraussichtliche beitragspflichtige Arbeitsentgelt für die Zeit bis zum Ende der Beschäftigung bis zu drei Monaten im Voraus zu bescheinigen, wenn von den Versicherten für die Zeit danach eine Rente wegen Alters beantragt wird. Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn am 1. März 2006 erteilte der Arbeitgeber der Klägerin für den Zeitraum vom 1. März 2006 bis zum 31. Mai 2006 eine Vorausbescheinigung über die zu erwartenden beitragspflichtigen Einnahmen. Der Arbeitgeber der Klägerin bescheinigte zu erwartenden Einnahmen in Höhe von 3.541 €, wodurch die Klägerin bei der Berechnung der durch den Bescheid vom 21. März 2006 gewährten Rente in den Genuss von zusätzlichen Entgeltpunkten kam.
Die Vorausbescheinigung erwies sich insofern als unzutreffend als der Arbeitgeber der Klägerin der Beklagten mit Schreiben vom 3. August 2006 mitteilte, dass in ihr irrtümlich nur das Entgelt für den Monat Mai 2006 bescheinigt worden sei; das voraussichtliche beitragspflichtige Entgelt betrage vielmehr 8.785,00 €.
Auf den ersten Blick steht § 70 Abs. 4 Satz 2 SGB VI der Aufhebung des Bescheides vom 21. März 2006 entgegen, weil die tatsächlich erzielte beitragspflichtige Einnahme von der vorausbescheinigten abwich. Dies greift jedoch zu kurz. Diese Vorschrift regelt nämlich den Fall, dass das tatsächlich von dem Versicherten erzielte Einkommen von dem vorausbescheinigten aufgrund von Umständen abweicht, die bei der Erteilung der Vorausbescheinigung noch nicht zu erkennen waren. Das ist z. B. gegeben, wenn im Zeitpunkt der Erteilung der Vorausbescheinigung die genaue Anzahl der Arbeitsstunden noch nicht feststeht. Anders ausgedrückt ist die Prognose maßgeblich, wenn sie nachträglich widerlegt wird. Anders sind jedoch diejenigen Fälle zu beurteilen, in denen eine Vorausbescheinigung bereits unter Zugrundelegung der bei ihrer Erteilung bekannten Umstände unzutreffend ist. In diesem Falle steht § 70 Abs. 4 Satz 2 SGB VI einer Aufhebung eines Rentenbescheids nicht entgegen, sondern es gelten die allgemeinen Regeln, der §§ 44 ff. SGB X (GK-SGB VI-Försterling, § 70, Rn. 154). So liegt es hier. Die von dem Arbeitgeber der Klägerin am 1. März 2006 erteilte Entgeltvorausbescheinigung war von Anfang an fehlerhaft, weil darin die zu erwartenden Einnahmen der Klägerin in den Monaten März und April 2006 (irrtümlich) gar nicht bescheinigt wurden.
Die Beklagte hat auch erkannt, dass die das öffentliche Interesse an der Aufhebung eines rechtswidrigen Bescheides gegen das Interesse der Klägerin an dessen Bestand abwägen muss. Abwägungsfehler liegen nicht vor. Insbesondere sind keine sachfremden Erwägungen zu erkennen. Konkrete Einwendungen gegen die Ausübung des Ermessens hat die Klägerin auch nicht erhoben.
Aus diesen Gründen konnte die Klage keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Kammer hat die Revision zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nr. 2 SGG). Es ist noch nicht geklärt, in welchem Umfang Fehler bei der Berechnung der voraussichtlichen beitragspflichtigen Einnahme im Rahmen von § 70 Abs. 4 Satz 2 SGB VI beachtlich sind.