Leitsatz
Keine Rechtsmissbräuchlichkeit, wenn nach eingetretener Erledigung durch Erteilung des Widerspruchsbescheides das Klageverfahren wegen Untätigkeit beendet und eine Anfechtungsklage erhoben wird.

Verfahrensgang vorgehend SG Potsdam 7.06.2006 S 20 SO 18/06

Tenor
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 07. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe
I.
Die Beteiligten streiten noch über die Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Verfahren vor dem Sozialgericht.

Mit Bescheid vom 11. August 2005 lehnte der Beklagte die Kostenübernahme für eine Einzelfallhilfe während der Schulzeit des Klägers für das Schuljahr 2005/06 in der Grundschule T ab. Hiergegen erhob der Kläger am 15. August 2005 (Eingang bei dem Beklagten) Widerspruch. Nach Vortrag des Klägers teilte der Beklagte mit Schreiben vom 18. August 2005 mit, dass die Prüfung noch einige Zeit in Anspruch nehmen werde (ein solches Schreiben befindet sich nicht bei den Verwaltungsvorgängen). Am 07. Dezember 2005 und mit Schreiben vom 18. Januar 2006 erinnerte der Kläger an die Bescheidung des Widerspruchs. Mit Schreiben vom 30. Januar 2006 verwies der Beklagte darauf, dass mit Beschlüssen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren des Sozialgerichts Potsdam vom 04. August 2005 und des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. November 2005 darüber entschieden worden sei, dass der Sozialhilfeträger bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren 20 Wochenstunden Einzelfallhilfe zu gewähren habe. Diese würden - wie bisher - mit 6 Euro vergütet. Das Hauptsacheverfahren bleibe abzuwarten.

Am 30. Januar 2006 hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben und beantragt, den Beklagten zu verurteilen, über den Widerspruch vom 14. August 2005 gegen den Bescheid vom 11. August 2005 zu entscheiden und die Kosten für die Einzelfallhilfe zu einem Stundensatz vom 15 Euro zu übernehmen.

Nachdem der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Februar 2006 den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 11. August 2005 zurückgewiesen hatte, hat der Kläger am 24. Februar 2006 den Rechtsstreit für erledigt erklärt und beantragt, dem Beklagten die Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen. Die Klage sei nach mehr als drei Monaten eingereicht worden. Der Beklagte habe ohne zureichenden Grund nicht innerhalb der Frist über den Widerspruch entschieden, sondern erst nach fünf Monaten.

Der Beklagte hat zunächst angeregt, den Bescheid vom 11. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Februar 2006 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen und der gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Weiter hat er geltend gemacht, dass außergerichtliche Kosten des Klägers von ihm nicht zu erstatten seien. Wenn nach Erlass und Kenntnis des ablehnenden Widerspruchsbescheides der Rechtsstreit für erledigt erklärt werde, müsse davon ausgegangen werden, dass die Übernahme der Kosten der Einzelfallhilfe zu einem Stundensatz von 15 Euro nicht mehr begehrt werde. Der Kläger habe beim Sozialgericht Potsdam zu dem für erledigt erklärten Rechtsstreit mit gleichem Streitgegenstand erneut Klage erhoben. Der Rechtsstreit habe sich nicht erledigt, was letztlich mit der neuen Klage deutlich werde. Es wäre sachdienlich gewesen, den ablehnenden Widerspruchsbescheid in den Klageantrag des hiesigen Verfahrens einzubeziehen und das Begehren im Wege der Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage weiterzuführen. Die Erhebung einer neuen Anfechtungsklage nach Erledigung des bereits anhängigen Verfahrens sei rechtsmissbräuchlich.

Mit Beschluss vom 07. Juni 2006 hat das Sozialgericht den Beklagten verpflichtet, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten dem Grunde nach zur Hälfte zu erstatten. Der mit dem Klageantrag vom 31. Januar 2006 auf die Verpflichtung des Beklagten zur Kostenübernahme gerichtete Antrag sei unzulässig gewesen, da eine Untätigkeitsklage grundsätzlich nur auf die Bescheidung, nicht auch auf einen Bescheid bestimmten Inhalts gerichtet sein könne. Die im Übrigen zulässige Klage sei begründet gewesen, da ein zureichender Grund für die späte Bescheidung nicht ersichtlich gewesen sei. Dass der Kläger von seinem Recht, nach Erteilung des Bescheides mit neuem Antrag den Rechtsstreit fortzusetzen, keinen Gebrauch gemacht habe, sei nicht rechtsmissbräuchlich.

Gegen den am 02. August 2006 zugestellten Beschluss hat der Beklagte am 07. August 2006 Beschwerde eingelegt. Er macht weiter geltend, der Kläger habe die Beendigung des Verfahrens sachwidrig herbeigeführt. Der Kläger habe nach Zustellung des Widerspruchsbescheides mit „einem Atemzug“ Erledigung erklärt und erneut Klage erhoben.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

den Beschluss vom 07. Juni 2006 aufzuheben und den Antrag, ihm, dem Beklagten, außergerichtliche Kosten aufzuerlegen, abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes zum Zeitpunkt der Entscheidung wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht Potsdam hat im Ergebnis zu Recht den Beklagten verpflichtet, außergerichtliche Kosten des Klägers zu erstatten.

Nach § 193 Abs. 1 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG - ist darüber, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben, auf Antrag durch Beschluss zu entscheiden, wenn das Verfahren anders als durch Urteil beendet wird. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Ob eine einseitige Erledigungserklärung durch einen der Beteiligten, wie hier durch den Kläger, im Sozialgerichtsverfahren die Hauptsache erledigt oder nicht, kann dahinstehen, weil in der von der Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 23. Februar 2006 abgegebenen Prozesserklärung jedenfalls eine Rücknahme der Klage zu sehen ist, welche den Rechtsstreit erledigt hat, § 102 Satz 2 SGG.

Die Kostenentscheidung ist grundsätzlich nach sachgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu treffen. Wesentlich sind dabei die Erfolgsaussichten der Klage und die Frage, wer Anlass für die Klageerhebung gegeben hat. Der Gesichtspunkt der Veranlassung zur Klageerhebung hat Vorrang vor dem der Erfolgsaussicht der Klage (vgl. LSG NRW v. 09.05.2007 - L 8 B 28/06 R - juris; ähnlich: HessLSG v. 07.02. 2003 - L 12 B 93/02 RJ - juris). Die Entscheidung, dass der Beklagte die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt, ist unter Berücksichtigung dieser Grundsätze nicht unbillig.

Der Kläger hatte eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG erhoben, verbunden mit einer Verpflichtungsklage.

Bei Erledigung einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG hat der Beklagte in der Regel die außergerichtlichen Kosten zu erstatten, wenn die Klage nach der Sperrfrist erhoben worden ist und später der begehrte Verwaltungsakt ergeht (Meyer-Ladewig/Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage § 193 Rn. 13 c). Dies entspricht der Wertung des § 88 SGG und den dort für die Klage auf Vornahme eines Verwaltungsaktes bzw. auf Erlass eines Widerspruchsbescheides geregelten Fristen, bei denen davon auszugehen ist, dass innerhalb dieser Fristen ein Antragsteller bzw. Widerspruchsführer mit einer Entscheidung rechnen durfte. Im vorliegenden Fall hat der Kläger jedenfalls nach Ablauf der Frist von drei Monaten nach Einlegung des Widerspruchs vom 15. August 2005 die Untätigkeitsklage erhoben.

Dass die beklagte Behörde die Kostenlast des Verfahrens trifft, wenn bei Klageerhebung mit einer Entscheidung gerechnet werden durfte, gilt jedenfalls soweit dem Kläger nichts Gegenteiliges seitens der Beklagten unter Angabe eines zureichenden Grundes (§ 88 Abs. 1 Satz 2 SGG) mitgeteilt worden ist. Dabei kommt es für die Kostenbelastung des Beklagten vor allem darauf an, ob er einen zureichenden Grund dafür hatte, über den Widerspruch nicht vor Klageerhebung zu entscheiden, und erst in zweiter Linie - wenn nämlich feststeht, dass die Beklagte einen derartigen Grund hatte -, ob der Kläger mit einer Bescheidung vor Klageerhebung rechnen durfte. Erst wenn ein zureichender Grund vorliegt, ist es von Bedeutung, ob dem Kläger der Grund für die Verzögerung bekannt war oder bekannt sein musste (Weides/Bertrams, NVwZ 1988, 673, 679 m.w.N. zu § 163 VwGO).

Ob ein zureichender Grund für eine Nichtbescheidung vorliegt, ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen. Ein solcher Grund kann z. B. dann vorliegen, wenn die Behörde vorübergehend besonders belastet ist oder besondere Schwierigkeiten des Sachverhalts eine längere Bearbeitungszeit als die nach § 88 Abs. 2 SGG vorgesehene beanspruchten. Ein solcher zureichender Grund für die Nichtbescheidung des Widerspruchs vor Erhebung der Untätigkeitsklage ist hier nicht ersichtlich. Nach dem Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen die Bearbeitung des Widerspruchs nicht innerhalb der Frist des § 88 Abs. 2 SGG erfolgen konnte, der Widerspruch nicht innerhalb von drei Monaten einer Entscheidung zugeführt worden ist. Der Beklagte hat weder im Widerspruchs- noch im Klageverfahren einen solchen Grund vorgetragen. Eine bloße Zwischennachricht über den Sachstand ist zur Darlegung eines zureichenden Grundes für die Nichtbescheidung nicht ausreichend.

In besonderen Fällen kann zwar die Erhebung einer Untätigkeitsklage rechtsmissbräuchlich sein, wenn eine formale Rechtsposition ohne eigenen Nutzen genutzt wird (vgl. hierzu: LSG Bremen vom 03. Juli 1996, L 4 BR 39/95, juris). Solche besonderen Umstände sind hier nicht ersichtlich. Eine Rechtsmissbräuchlichkeit folgt hier auch nicht daraus, dass der Kläger nicht nach Erteilung des Widerspruchsbescheides im Wege der Klageänderung sein Klagebegehren als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage fortgeführt hat. Zwar soll dies grundsätzlich zulässig sein (Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 88 Rn. 10 b) a.A. Zeihe, SGG § 88 Rz. 9 a; Hennig/Ulmer, SGG. § 88 Rz. 5; eine Verpflichtung im Wege einer solchen Änderung des Klagebegehrens sein Rechtsbedürfnis zu verfolgen, folgt hieraus jedoch nicht. Anders als in dem Verfahren nach der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO – ist die Untätigkeitsklage im sozialgerichtlichen Verfahren als reine Bescheidungsklage ausgestaltet (Leitherer a.a.O., Rn. 9 b m.w.N.). Daher kann es nicht rechtsmissbräuchlich sein, nach erfolgter Bescheidung und damit eingetretener Erledigung der Hauptsache das Klageverfahren zu beenden und in einem neuen, nach dem SGG geregelten Verfahren mittels einer - durch Erlass des begehrten Widerspruchsbescheides erst zulässig gewordenen - Anfechtungs- und Verpflichtungsklage nach § 54 SGG die Aufhebung eines Verwaltungsaktes und den Erlass eines bestimmten Verwaltungsaktes zu begehren.

Soweit der Beklagte unter Verweis auf verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung in dieser Verfahrensweise eine Rechtsmissbräuchlichkeit erkennt, verkennt er, dass § 75 VwGO (Klage bei Untätigkeit der Verwaltung) für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen abweichend von § 68 VwGO den Klageweg für eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ohne Vorverfahren eröffnet und damit von vornherein, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 75 VwGO, eine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 75 Rn. 1). Die Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ist im sozialgerichtlichen Verfahren jedoch als eigenständiger Rechtsbehelf ausgestaltet. Diesen zu nutzen und nach Erledigung ein weiteres, nach dem Gesetz vorgesehenes Rechtsmittel einzulegen, ist nicht rechtsmissbräuchlich.

Soweit der Kläger mit seiner Klage auch eine Verpflichtungsklage erhoben hatte, war diese - mangels Abschluss eines Vorverfahrens - unzulässig. Dies hat das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend gewürdigt und im Ergebnis den Beklagten nur mit der Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits belastet.

Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens.

Eine Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens war erforderlich, da hier mit der Beschwerde eine Entscheidung in dem Antragsverfahren nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG bei Erledigung der Hauptsache angefochten war. In diesen Fällen hat eine Kostenentscheidung zu ergehen (Meyer-Ladewig: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage 2005 § 176 Rn. 5; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 3. Auflage, X Rn. 58; Mählicke in: HK-SGG, § 176 Rn. 5; Jansen, Sozialgerichtsgesetz, 2. Auflage 2005, § 176 Rn. 9; LSG Niedersachsen-Bremen v. 27.03.2007, L5 B 3/06 VG, juris, Rn.: 18; LSG Rheinland-Pfalz vom 06.08.2007, L 3 B 307/06 AS, juris; a.A. Landessozialgericht Rheinland-Pfalz v. 12. 02.2007, L 4 B 246/06 R, juris).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden, § 177 SGG.

Sachgebiete

Schlagworte
Kostentragung der Behörde bei erledigter Untätigkeitsklage nach § 88 SGG