LSG Hamburg 5. Senat , Beschluss vom 2. September 2008 , Az: L 5 B 296/08 ER AS
Leitsatz
1. Eine Beschwerde wegen Untätigkeit eines Gerichts ist unzulässig, weil für sie keine gesetzliche Rechtsgrundlage besteht.
2. Eine solche Beschwerde kann nicht durch richterrechtliche Rechtsfortbildung entwickelt oder begründet werden, weil dies dem Gebot der Rechtsmittelklarheit widersprechen würde.

Tenor
Die Untätigkeitsbeschwerde der Antragstellerin wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe
Die am 23. Juli 2008 von der Antragstellerin erhobene Untätigkeitsbeschwerde ist unzulässig.
Nach § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) findet die Beschwerde an das Landessozialgericht gegen die Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte statt, soweit nicht in diesem Gesetz anderes bestimmt ist. Eine beschwerdefähige Entscheidung des Sozialgerichts liegt bisher nicht vor.
Für die von der Antragstellerin erhobene Beschwerde wegen Untätigkeit des Sozialgerichts existiert keine gesetzliche Rechtsgrundlage. Sie kann auch nicht durch richterrechtliche Rechtsfortbildung entwickelt oder begründet werden, da dies dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns widerspräche.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat entschieden, dass sich aus dem Rechtsstaatsgebot das Gebot der Rechtsmittelklarheit ableitet. Dies bedeutet, dass die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt werden und in ihren Voraussetzungen für den Bürger erkennbar sein müssen. Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns gebietet es, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (BVerfG, Beschluss vom 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395). Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen es zulässig ist, welche Ziele er damit erreichen kann und wie er vorgehen muss. Es verstößt deshalb gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (BVerfG, Beschluss vom 16.1.2007 – 1 BvR 2803/06 – NJW 2007, 2538). Entsprechend geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) davon aus, dass eine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde kein wirksamer Rechtsbehelf gegen eine überlange Verfahrensdauer ist (EGMR, Urteil vom 8.6.2006 – 75529/01 – NJW 2006, 2389, 2392).
Nach diesen Vorgaben verbleibt für die Schaffung einer durch Richterrecht begründeten Untätigkeitsbeschwerde ohne gesetzliche Grundlage kein Raum (BSG, Beschluss vom 28.2.2008 – B 7 AL 109/07 B – Juris; BSG, Beschluss vom 4.9.2007 – B 2 U 308/06 B – SozR 4-1500 § 160a Nr. 18; BSG, Beschluss vom 21.5.2007 – B 1 KR 4/07 S – SozR 4-1500 § 160a Nr. 17; BFH, Beschluss vom 4.10.2005 – II S 10/05 – Juris; BVerwG, Beschluss vom 5.12.2006 – 10 B 68/06 – Juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 3.7.2008 – L 7 B 204/08 AS – Juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7.7.2008 – L 3 B 869/08 R – Juris). Der Beschluss des Bundessozialgerichts vom 13.12.2005 (B 4 RA 220/04 B) steht dem nicht entgegen, da er aufgrund der späteren Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR überholt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG)